Der Ort ist egal, die Zeitzone nicht

Wo das Scrum Team arbeitet, sollte erst einmal nachrangig sein. Es ist ein Glaubenssatz des Betriebssystems 1, dass Menschen an einem bestimmten Ort sein müssen, um gute Ergebnisse liefern zu können. Auf Präsenzpflicht zu bestehen, schränkt den Kreis der möglichen Team-Mitglieder stark ein, denn das Unternehmen sucht dann lediglich im Umkreis von 30 bis 100 Kilometern rund um das Firmengebäude oder macht die Auflage, dass die Bewerber dorthin ziehen müssen. Solche Parameter führen nicht zum Ziel. Es geht darum, das beste Scrum Team für sein Produkt zu finden – nicht irgendein Scrum Team vor Ort. Die einzige Einschränkung, die es in Bezug auf den Arbeitsort des Teams geben sollte, ist die Zeitzone: Die Zeitverschiebung sollte nicht mehr als minus eine Stunde oder plus sechs Stunden betragen. So ist die Schnittmenge der gemeinsamen Arbeitszeit noch groß genug, um unkompliziert miteinander kommunizieren zu können.

Der Product Owner sollte die Konzernsprache sprechen

Ebenso nachrangig ist die Frage, ob das Team Deutsch oder Englisch spricht. Im Gegenteil: In dem Moment, wo ein Unternehmen auch akzeptiert, dass ein Scrum Team Englisch spricht, wächst die Zahl der qualifizierten Kandidaten sprunghaft. Mit einer Einschränkung: Bei den Product Ownern ist es sehr wichtig, dass es keine Sprachbarriere gibt, denn er verantwortet das Produkt. Da dürfen keine sprachlichen und kulturellen Hindernisse in der Kommunikation existieren. Er sollte die Sprache sprechen, die vom Unternehmen gewünscht und vorgegeben wird. Beim Entwickler und Scrum Master ist dies nicht so entscheidend.

Aus Personalkosten werden Reisekosten

Wenn im internationalen Rahmen nach Teammitgliedern gesucht wird, gilt die Regel: Je weiter im Osten, desto niedriger sind die Honorare oder Gehälter. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die im Vergleich zu den hiesigen Honoraren oder Gehältern eingesparten Kosten an anderer Stelle investiert werden müssen – nämlich in Reisen zu persönlichen Treffen. Aus Personalkosten werden so Reisekosten. Persönliche Treffen sind ein wichtiger Erfolgsfaktor für das Teambuilding, den Teamspirit, für die Identifikation aller mit dem Produkt und damit letztendlich für den Erfolg des Produkts. Deshalb sollten regelmäßige persönliche Treffen auch zur Auflage gemacht werden. Wer nur im Homeoffice ist, identifiziert sich mit Prozessen und Arbeitsabläufen, aber nicht mit dem großen Ganzen. Und es findet auch keine „freie“ Kommunikation auf dem Flur oder beim Essen statt. Diese immer wieder zu pflegen, ist jedoch wichtig, um in einen gemeinsamen kreativen Flow zu kommen.

Crossfunktionales Arbeiten: Raum für kreative Lösungen

Ebenfalls wichtig für den Aufbau eines Scrum Teams ist die Frage, wer im Team was können muss. In vielen agilen Organisationen hält sich hartnäckig der Mythos, dass jedes Scrum-Teammitglied auf Anforderung jeweils alle anderen Rollen ebenfalls ausfüllen sollte. Dieses crossfunktionale Arbeiten funktioniert so aber nicht. Ein Frontend-Entwickler ist nicht automatisch auch ein guter Backend-Entwickler – so wie ein Schreiner nicht zwingend auch ein guter Elektriker sein muss. Dennoch sollte sich das Team genau dieses Ziel setzen. Dies zu tun, obwohl klar ist, dass das Team das Ziel nie erreichen wird, klingt paradox. Dennoch ist es hilfreich, dies zu versuchen – denn ein Scrum Team kann nur dann Raum für kreative Lösungen schaffen, wenn sich die einzelnen Mitglieder leidlich gut in den Spezialgebieten der jeweils anderen auskennen. Dann wissen sie genug, um gewisse Dinge solide einschätzen zu können, verlieren sich aber immer noch nicht so sehr in den Details, dass sie den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen würden.

Von I zu T zu TT

Eine Methode, um diesen Zustand zu erreichen, ist das sogenannte Pair Programming (Paarprogrammierung oder Tandemprogrammierung). Sie beruht im Wesentlichen darauf, dass zwei Teammitglieder gleichzeitig an einem Arbeitsplatz bzw. an einer Aufgabe arbeiten. Einer tut etwas, der andere schaut ihm quasi über die Schulter, denkt mit, spricht Probleme, die ihm auffallen, sofort an, gemeinsam findet das „Paar“ neue Lösungen. So formen sich aus beiden – die in ihrem jeweiligen Gebiet Experten sind – die sogenannten „T-shaped Professionals“, also Spezialisten und Generalisten in einem. Der senkrechte Strich des T steht für das Gebiet, das das jeweilige Teammitglied in der Tiefe als Spezialist beherrscht. Der waagrechte Strich steht für das breite, übergreifende Wissen, das es in den Gebieten der anderen Teammitglieder erwirbt. Die Teammitglieder entwickeln sich so nach und von I (Experten) zu T (T-shaped Professionals) zu TT (Menschen mit Expertise auf zwei Gebieten. Wenn man das TT etwas kreativer auslegt, könnte es auch wie ein PI-Zeichen gelesen werden: von I zu T zu Pi. In der Praxis führt diese Vorgehensweise dazu, dass beispielsweise ein Entwickler die Rolle des Scrum Masters nicht nur (fast) so gut kennt wie seine eigene, sondern diese auch übernehmen könnte – und umgekehrt. Dieses Mindset zu haben und zu kultivieren, ist essentiell für ein qualifiziertes Scrum Team – und genau nach Menschen mit diesem Mindset müssen Unternehmen suchen. Der Ort, an dem das Team arbeitet, und die Sprache, die das Team spricht, ist als absolut zweitrangig anzusehen.